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Geschrieben von Stephan am 24. September 2010

Am heutigen Freitag ist der Karton mit der neunten Ausgabe der Beziehungskiste in unserem Lager eingetroffen. In dem neuen Heft gibt es auf 80 Seiten um die 100 Berichte aus knapp zwanzig Ländern. So bereisten die Beziehungskiste-Macher unter anderem den Balken und Südamerika, um nun von ihren Erlebnissen zu berichten. Und damit Ihr Euch bereits jetzt einen Eindruck vom neuen Heft machen könnte, wurde uns eine weitere Leseprobe zur Verfügung gestellt:

Racing Club vs. CA Boca Juniors Do. 08.10.09 / 1. Liga Argentinien

Heute stand Gammelmarktshopping auf dem Plan. Für mich eine kurze Trainingshose und Stutzen von River. Das ist mein Club – ich Erfolgsfan. Aber dieses Jahr ist ein schweres Jahr für River, den Rekordmeister. Deswegen halte ich zu ihnen, und kaufe mal vorsorglich Fanartikel für das Spiel, das da kommen soll. River ist schlecht und wenn sie absteigen sollten, hieße das allerdings für die Vereine außerhalb der ersten Liga, dass gegebenenfalls wieder Gäste zugelassen würden, – denn River könne man keine Auswärtsspiele verbieten… so oder so ähnlich (aber sie sind nicht abgestiegen). Doch heute ist erst mal was anderes angesagt – unser zweites Spiel im Estadio Presidente Perón. Und unser zweites Auswärtsspiel von La Doce. Im Vorfeld hatten wir uns wieder um Karten gekümmert und damit ich nicht wieder alleine irgendwo zwischen den Massen rumturne, geh ich lieber mit den Jungs per Handschlag vom Pressechef unten rein. Nun ja, es ist wahrscheinlich nicht so oft, dass Mädchen aus Deutschland dort rumlaufen, also waren alle ganz freundlich und der Präsi vom Club, wahrscheinlich kein korrupter Typ weiter, begrüßte uns höflich und bestimmt. Nun, im Cilindro ging heute nochmal gut was los. Es ist mir ja auch egal, wenn Boca so sein soll wie Bayern und das ist ja ganz schrecklich, wenn die alle gut finden. Doch man wäre ja ironisch gebrochen, würde man das nicht geil finden. Ich weiß schon, ich bin ja eigentlich River Fan, bleib ich auch… in drei Wochen kann man nichts übers Knie brechen, jedenfalls ist Boca deswegen nicht schlechter, als sie´s eben sind.

Beziehungskiste 9 Dadurch wir nur ein paar Meter vom Pufferblock zu den Gästen entfernt Platz genommen hatten, konnte ich die dann auch echt gut beobachten. Die Menschenmassen, die bereits im Unterrang des Gästeblocks waren, die, die oben auf dem Rang hüpften, die Fahnen und die Bänder, die aufgemacht wurden, vorn überm Wassergraben befestigt, da turnen welche rum und singen, alles in gelb und blau getaucht, dazu der Bass, der unter der Tribüne hervor dröhnt, die Trommeln, akustische Reizüberflutung und dann die Kunden. Wahnsinnige, nichts anderes! Auf der Heimseite gab es heute die langen aufblasbaren Folienteile in hellblau und weiß, nicht ganz so beeindruckend wie beim ersten Spiel in dieser ständig wackelnden, hin und herschwingenden Riesenschüssel. Als sie 1950 eröffnet worden ist, passten sogar 100.000 rein, Maximum sollen wohl mal 115.000 gewesen sein, mittlerweile ist aber umgebaut worden und etwas Sicherheitstechnik lässt nur noch knapp über die Hälfte Platz finden. Gespickt mit Infos von unseren zeitweisen Tourbegleitern verfolgten wir mehr oder weniger die ganze Zeit die Gäste und versuchten ein bisschen ihr System zu analysieren. Wir suchten nach Mauro Martin, und beobachteten die Kommandos, die er gab, um die Kurve zu koordinieren. Unglaublich sowas. Aber doch nachvollziehbar, wenn man mal die Geschichten im Pasión Latina durchgeblättert hat. Nur wirklich unglaublich – die beiden Torjubel der Gäste. Lebensgefährlich natürlich, völlig gestört, absolute Passion! Zumal vor der ersten Reihe immer Kunden auf dem Betongeländer zum Wassergraben standen, es ist ein Wunder, dass da keiner reingefallen ist. Sogar ein Hund hatte an dieser Stelle des Blocks seinen Platz und wirkte genauso benebelt und fanatisch wie die Menschen um ihn herum. Die beiden Insider an unserer Seite gaben den ein oder anderen zum Besten, auszugsweise: La Guardia Imperial (S.L.) wird von 350 Dock Sud geführt… die Leute von Lanus (Geburtsort von Diego Maradona) wollen die Macht und kämpfen mit Indepediente gegen die Chefs der Barra von Boca… die hat wiederum Verträge mit Coca Cola und bestimmt über die Abläufe bei Banfield… 2006 gab es einen Präsidentschaftskandidaten für Boca, der ist jetzt Bürgermeister und hat die Gästeblöcke verkleinern lassen… Allerdings gibt es einen Präsidenten bei River, der jetzt tatsächlich Bürgermeister ist, ist das jetzt derselbe oder machen das alle so? So und so ähnlich geht es kreuz und quer durch die Barras und deren Machthaber, mit Fußball hat das eigentlich gar nichts weiter zu tun. Es geht eben um Kohle, Drogen, Macht, das Übliche. Und dabei sieht das alles so genial aus, und es hat so eine Atmosphäre, die einen nicht loslässt, man muss eben hinsehen, wie sie singen und abgehen, was nützt da ein Fußballspiel zu schauen und all die Kriminalität zu hinterfragen, wenn du da neben dir die Kunden dazu hast!

Auch wenn ich Boca sehr gut gehört habe, ist es allerdings so, dass Racing das eine Lied singt, das mich während dieser Tour dermaßen gefangen und vereinnahmt hat, dass ich es, wenn ich dusche, Einkaufen gehe oder koche, immer wieder mal pfeife oder (ohne den Text wirklich zu kennen) vor mich her singe. Nicht wie irgendeinen Schlager, den man im Kopf hat, sondern so, dass ich jedes Mal richtig high werde davon. Naja fast. Es fallen böse Schimpfwörter im Text und irgendeiner meinte, die Geschichte des Vereins und der Rivalitäten zu den anderen würde textlich thematisiert. Es ist die schönste Melodie, die ich kenne und ich habe in den Minuten, in denen es bei meinem ersten Spiel im Cilindro gesungen wurde, geglaubt, nicht mehr klarzukommen, als die Pfeiler sich zentimeterweit hin- und herbewegten. Vom ganzen Stadion getragen eigentlich fast nur Sekunden, aber so stark und so intensiv, so, wie ich die Stimmung in Argentinien im Kopf behalten habe. Und heute also, freute ich mich eigentlich am Meisten auf die zehn oder zwanzig Sekunden, in denen sie es singen mögen. Und als es endlich kam, naja, es war eben so ein Schauder, weil ich so fasziniert von dieser Melodie bin. Du kannst auch gar nicht anders, als fasziniert sein, von dieser Lautstärke, den Stimmen, die Tonlage ist manchmal richtig angsteinflößend und doch lebendig, voller Leidenschaft. Von wegen Leidenschaft, die wir hierzulande besingen, das ist einfach was anderes. Und dazu diese tausenden Freaks, die es wahrscheinlich echt so meinen. Es ist doch ein Unterschied, einfach mitzusingen oder aus deinem ganzen Herzen heraus, weil du es glaubst, ein Lied ins Stadion zu schmettern… ich schweife ab. Aber so fühlt es sich an – authentisch! Racing ist jetzt nicht der Knaller-Verein, aber sie singen eben dieses Lied, und wie! Boca war natürlich trotzdem der Renner und die restlichen 85 Minuten wandten wir kein Auge ab von diesem krassen Mob ab.

Mittlerweile hatten wir uns schon sehr gut ‚eingelebt‘ und es überkam uns dann doch langsam eine Art Wehmut, weil wir ja nicht mehr so lange bleiben würden, im schönen Buenos Aires. Eine fantastische Stadt und ich hätte spontan gesagt, ich würde dortbleiben wollen. Wir trafen uns fast jeden Morgen mit der anderen WG zum Frühstück, nur heute nicht, weil Besorgungen zu tun waren. Ich schlenderte durchs Viertel und suchte nach antiken Schätzen von Adidas, Puma und Co. aus vergangenen Jahrzehnten, die Jungs checkten Internet und Reiseverbindungen für die letzten Tage ab… San Telmo, also unsere Hood erstreckt sich über zwei bis drei Kilometer im Sur (Süden) der Innenstadt. Es ist eines der älteren und historischen Viertel, die Häuser sind teilweise klein und verschachtelt, hübsche französische Balkone stehen hervor, ab und an eine von Grünpflanzen verwucherte Fassade. In den Geschäften gibt es Antiquitäten und schöne bunte Dinge zu kaufen, abwechselnd mit kleinen Straßencafés und in der Mitte befindet sich ein Marktplatz. Dort findet wöchentlich eine ausgefeilte Touristenabzocke statt, Menschenmassen, die sich durch die engen Gassen schieben… Aber wochentags ist es traumhaft. Es gab auch ein Café Aleman, nur nicht wirklich deutsches Bier darin. In Puncto Kneipen und Bars waren wir zwar meistens auf der Seite der am Straßenrand grillenden Hamburgueza-Verkäufer, das ein oder andere Rindersteak ließen wir uns allerdings doch schmecken. Unser Stadtteil war nun gerade prädestiniert zu solchen kulinarischen Highlights. Aber unser eigentliches war das allabendliche Quilmes. Jeder von uns holte sich am Späti ein bis zwei von den großen Literflaschen, und so saßen wir oft bis in die späte Nacht hinein. Wie gesagt, wir hatten uns daran gewöhnt. Ich wäre dort geblieben. In dieser Stadt zu leben, könnte perfekt sein, jeden Tag Fußball, wann und wo man will, günstiges Bier, feine Hamburguezas, irgendwo würde sich auch ein kleiner Job finden lassen. Nur – was uns allen auffiel: die schönen Chicas, die man geografisch eigentlich in Südamerika einordnen möchte, sucht man hier vergebens. Zudem tragen sie alle die Stoffhosen, die oben weit und ab Kniehöhe eng sind. Mittlerweile ist dieser gruselige Auswuchs der Modewelt auch in Deutschland angekommen, doch hätte ich mir auf der Tour eine solche gekauft, wäre ich bei Ankunft in Deutschland der Trendsetter gewesen – auch wenn es scheiße aussieht. Und dann eben passend dazu auch schöne Männer – Mangelware. Aber ich halt die Augen auf bis zur Abreise. Bis dahin stand u.a. noch das berüchtigte Chacarita auf dem Tourplan. Das klingt schon so, wie Messerstecher.

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