Im November erschien nach langer Wartezeit endlich das Buch zur BSG Chemie Leipzig mit dem Titel ‚Steigt ein Fahnenwald empor‘. Der Grund für die lange Wartezeit lag vor allem darin, dass immer mehr Material zusammen kam und das Werk auf stolze 640 Seiten anwuchs. Wie es genau dazu kam und wie es mit der Reihe weitergehen wird, dazu stand Autor Jens Fuge nun Rede und Antwort.
Hallo Jens, erkläre mir doch bitte mal, wie Du auf die Idee gekommen bist, solch ein Werk auf die Beine zu stellen. Und warst Du selbst vom Umfang überrascht?
Meinst du jetzt, überhaupt ein Chemie-Fanbuch zu machen, oder dass es so dick geworden ist? Das prinzipiell zu machen, hatte ich seit ca. zwanzig Jahren im Kopf, bin aber irgendwie nie dazu gekommen. Da ich ja seit 1980 selbst Auswärtsfahrer mit Chemie war, den Fanclub West im Jahr 1981 gegründet hatte, illegale Fanzines hergestellt habe, übrigens mit Co-Autor Ray Schneider, der auch beim Buch mitgemacht hat, und noch einiges mehr auf die Beine gestellt habe, kannte ich ja noch so einige Sachen und Leute. Dass es am Ende so ein Wälzer geworden ist, in den längst nicht alles hineingepasst hat, war nicht abzusehen. Deshalb gibt es ja noch zwei weitere Bände mit durchaus anderen Themen und Schwerpunkten, also nicht nur einen Abklatsch des ersten Bandes…
Nicht nur der Inhalt ist sehr umfangreich, auch beim Layout hast Du viel Arbeit reingesteckt. Wie viel Lebenszeit hat Dich denn eigentlich dieser Wälzer gekostet?
Das Layout hat mein Verlagskollege André Schönfeld umgesetzt, ich hatte nur die Ideen. Sowas wächst ja mit der Zeit. Also ein Jahr Lebenszeit, oder sollte man besser sagen: Arbeitszeit? hat mich das gekostet. Aber was heißt schon gekostet! Es war und ist ein Herzensprojekt, und es hat ja auch riesigen Spaß gemacht. So viele Leute von früher wieder getroffen, so viele Erinnerungen… Ich war wie auf einem Zeitreisetrip…
In welche Kategorie würdest Du Euer Buch einordnen und könntest Du kurz auf den Inhalt eingehen?
Kategorie? Geschichtsbuch, würde ich sagen. Am Beispiel einer Fankultur und -szene die DDR erklärt. Das aber ohne Zeigefinger und Erklär-Bär-Mechanismus, sondern das muss man sich ganz allein erarbeiten, indem man sich durch die Seiten liest.
Welche Reaktionen hast Du bisher bekommen?
Das schmeichelt mir jetzt, weil bisher inhaltlich komplett positiv bewertet wurde. Ich denke, es wurde eine Lücke geschlossen in der Geschichtsschreibung. Eine Szene, deren Fans so wild und rebellisch waren, wie die der Chemiker vor der Wende, darf nicht vergessen werden. Aber sie sollte auch nicht banalisiert dargestellt werden, indem man einige Interviews abdruckt und das war es dann. Ich habe durchaus Respekt vor einem solchen Vorgehen, aber mir war von Beginn an klar, dass unser Buch anders wird. Zeitgeschichte, eingeordnet in die politisch-kulturelle Situation in den unterschiedlichen Dekaden, aber trotzdem nicht verzichten auf die Erinnerungen der Fans, auf lustige Episoden, geile Fotos, und was alles dazu gehört. Die Mischung ist schon krass!
Hat Dich eigentlich der Umfang der Überwachung der Fans durch die Stasi verwundert und was waren für die Dich die kuriosesten Vorgänge der Abteilung Horch und Guck?
Der Umfang verwundert in der Tat, aber vor allem deshalb, weil so viel Schwachsinn in die Akten wanderte. Wie zum Beispiel der IM ‚Kondi‘ seitenweise darüber berichtet, dass in der soundsovielten Spielminute ein Blitzknaller explodiert sei, er aber nicht habe erkennen können, wer der Verursacher war, fand ich schon trübe. Heiterkeit rief der Bericht des Informanten ‚Fichte‘ hervor, der Chemie zum legendären 64er Spiel in Erfurt begleitete. Dafür gab es bei der Lesung letztens sogar Szenenapplaus. Dass über einen Stasi-Bericht in Leutzsch sogar mal gelacht werden könnte, zeigt, wie absurd der Inhalt sein muss.
Ihr habt ja tatsächlich noch zwei weitere Bände geplant. Welche Themen werden in denen aufgegriffen und wann sollen diese erscheinen?
Band 2 erscheint 2017 und ergänzt die Vorwende-Zeit. Wir kümmern uns vor allem um die 80er Jahre, stellen die drei wichtigsten Fanclubs in Leutzsch vor. Die ‚Grünen Engel‘, das war der Stamm, die dicken und bärtigen Typen haben uns allesamt beeinflusst. Die waren stramm antikommunistisch und haben daraus auch gar keinen Hehl gemacht. Die Mitglieder sind über das ganze Land verstreut, aber ich habe schon die besten Fotos und Erinnerungen von ihnen bekommen. Zum gemeinsamen Skatturnier nächsten Sommer bin ich auch eingeladen. Dann der Fanclub West, der wohl bestorganisierteste, und der Fanclub ‚Die Sorglosen‘, das waren sicherlich die chaotischsten. Wir haben den ehemaligen Chef in der Schweiz aufgetrieben und lange mit ihm geredet.
Zudem werden wir eine Übersicht über die restlichen Fanclubs geben, mit Kurzvorstellung und jeder Menge Fotos. Dazu gibt es nochmal Stasisachen, interessante Geschichten, wie das funktionierte, wie die versucht haben, Leute für sich zu gewinnen. Es gibt Ablehnungen und Erfolge, und spannende Stories.
Zudem eine 30-seitige Fotostrecke, direkt aus dem Fanblock 1983 bis 1985 fotografiert, die Entstehungsgeschichte der Chemie-Lieder, die illegalen Fanzines werden gezeigt und deren Geschichte erzählt. Der Schwarzmarkt vor dem Stadion wird gezeigt, tolle Stories dazu erzählt. Die Fanclub-Meisterschaften im Fußball haben ein eigenes Kapitel bekommen, früheste Musikgeschichte wird erzählt bei ‚Die Butlers und Chemie, sowas gabs noch nie‘, wo der Bandgründer von Renft von den Begegnungen mit Chemiefans erzählt. ZEIT-Kolumnist Christoph Dieckmann erzählt aus seiner Sicht über das Verhältnis zu Chemie, dazu werden berühmte Chemie-Fans porträtiert. Wie die Fanfreundschaft mit Wismut Aue begann und wie sie endete, wird ebenso erzählt wie Chemie-Fans im Ausland unterwegs waren. Dazu das Tagebuch eines Jungfans, und ein Artikel eines Journalisten über das ‚unbotmäßige Leutzsch‘.
Band 3 kommt dann 2018, und erzählt die komplette Geschichte des FC Sachsen mit den Regionalligajahren, und der Entstehung und Abspaltung der Ultras. Auch das wird ein fettes Ding, denn da war jede Menge los…
Und abschließend noch eine Frage zu Chemie. Glaubst Du an eine Rückkehr auf die große Fußballbühne und wo würde die BSG dann spielen?
Nein, glaube ich nicht. Der Verein wird sich aus meiner Sicht weiter stabilisieren und konsolidieren müssen, wozu unabdinglich die Sanierung des Alfred-Kunze-Sportparks gehört. Ohne das Gelände dort gibt es keine Entwicklung! Und wenn man vernünftig weitermacht, ist die vierte Liga kein Problem. Und wenn man dann noch solide weiter arbeitet, Stück für Stück wächst, Vertrauen zurückerobert, Geld reinholt, was in Leipzig extrem schwierig ist, und alles zusammen kommt, dann könnte die dritte Liga drin sein. Aber da muss schon viel zusammenkommen, sehr gute Arbeit konstant geleistet werden und Geduld aufgebracht werden. Fünf bis zehn Jahre, eher zehn, sehe ich da als realistisch an. Chemie hat nur diese Perspektive – ein Überflieger werden wir nie werden. Aber ein geiler Verein ist es auf alle Fälle wieder – und das ist die Hauptsache! Die Spielklasse ist mir dabei völlig schnuppe.
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