Zu Beginn der vergangenen Woche schaute Mirko Otto im Lager vorbei und hatte dabei neben der neuen Beziehungskiste 15 auch sein neuestes Werk ‚Fanszene Polen‘ mit im Gepäck. Dabei ergab sich dann auch die Möglichkeit, ihn bei einem Kaffee mit Fragen zu seinem neuen Buch, zur Fanszene in unserem Nachbarland sowie zur polnischen Meisterschaft zu löchern, die er ziemlich ausführlich beantwortet hat.
Hallo Mirko, Du hast mit ‚Fanszene Polen‘ Dein neuestes Werk dabei. Kannst Du kurz beschreiben, was den Leser erwartet?
Müsste ich es runter brechen, würde ich es als Art bebildertes Lexikon/Almanach beschreiben. Jede der aufgeführten 192 Fanszenen hat eine Seite erhalten. Dort sind neben Angaben zum Stadion, das Gründungsjahr des Vereins, Freundschaften, Feindschaften, Bündnisse, Gruppennamen usw. aufgeführt. Dazu jeweils ein Foto und der Clou ist dann der Text, mit dem versucht werden soll, die betreffende Szene kurz zu beschreiben. Das stellte sich letztlich auch als die schwierigste Aufgabe heraus und hat locker über 500 Stunden Arbeit gekostet. Über verschiedenen Kanäle wie Internet und alte Fanzines hab ich mir zu jeder Szene die vorhandenen Texte zusammengesucht, dann meist ein bis drei Stunden gelesen und gestöbert und mit dem eigenen vorhandenen Wissen dann eben alles Wissenswerte in Sätze verpackt. Klingt vielleicht auf den ersten Blick nicht so kompliziert, aber wer sich in den Arbeitsvorgang hineindenken möchte, versucht einfach mal gedanklich jeweils 10 bis 15 Sätze zu Szenen wie bspw. Unterhaching, Gütersloh oder auch einer großen Fanszene wie Schalke zu bilden. Bei den kleinen Fanszenen war es extrem aufwändig, überhaupt an brauchbare Infos zu gelangen, bei den Großen bestand dann wieder das Problem, alle Komponenten irgendwie unterzubringen. Hat die Szene eine große Geschichte? Welchen Wandel gab es? Vielleicht eine Besonderheit zum Stadion? Kurzum: Es hat wirklich eine Menge Nerven geraubt. Aber natürlich auch Spaß gemacht.
Umrandet wird das Buch von einem kleinen Wörterbuch, einem Überblick über die Fanszenen bei anderen Sportarten und da es nach Wojewodschaften – vergleichbar mit den unsrigen Bundesländern – geordnet ist, beginnt jede Wojewodschaft mit einer großen Karte, in der die betreffenden Städte eingezeichnet sind. Eine kurze Beschreibung der Wojewodschaft fehlt ebenso nicht, wie eine Übersicht zu kleinen Szenen, die aktuell nicht aktiv sind oder einfach zu marginal sind und es nicht mittels kompletter Seite ins Buch geschafft haben.
Wen hast Du bei der Arbeit an diesem Buch alles mit ins Boot geholt und wie seid Ihr an die ganzen Informationen gekommen?
Ich erlaube mir bei dieser Frage einfach mal mich selbst aus der Einleitung des Buches zu zitieren:
„Die Idee, eine Art Lexikon oder Nachschlagewerk über die komplette Fanszene eines Landes zu erstellen, entstand bereits vor gut drei, vier Jahren. Ein Italiener hatte über die Kanäle von Ultras Tifo eine Art Übersicht der Kurven aus seinem Land erstellt und schnell reifte in uns der Gedanke, derartiges gedruckt zu publizieren. Zwei eifrige Szenekenner machten sich auch flink ans Werk, konnten aus verschiedenen Gründen ihre Arbeit allerdings nie beenden. Gleichzeitig schlummerte aber auch das ‚Folgewerk‘, nämlich über die polnische Fanszene, in unseren Köpfen. Da wäre es wohl auch geblieben, wenn nicht der Autor des bekannten Fanzines ‚Faszination PL‘ – ohne von unserem Vorhaben zu wissen – im November 2014 einen fast identischen Gedanken hegte. Fix wurden nun die anderen Polen-Fanatiker aus Berlin, Schwerin, Cottbus und Frankfurt/Oder akquiriert und schon ging´s auch los!“
Wie zuvor schon angerissen, haben wir durch unsere Erfahrung anhand der vielen Spielbesuche – aus Spaß haben wir mal unsere gesehenen Spiele gezählt und sind bei den sieben Übeltätern auf die Anzahl von 1.744 gekommen – natürlich einiges an Vorwissen. Der Großteil stammt aber aus den guten, alten Fanzines. Diese stellten auch die Basis für historische Informationen dar, denn leider wurden fast alle Hefte um 2002 herum mit Aufkommen des Internets eingestellt. Aktuelle Infos wurden dann mit Hilfe des ‚To My Kibice‘ – überregionales Fanzine, vergleichbar mit BfU, Erlebnis Fußball etc. – zusammengeklaubt. Wenn es gar nicht anders ging, hab ich dann auch Experten aus Polen befragt. Das aber nur höchst selten, weil der Antrieb war natürlich es aus eigener Kraft zu schaffen.
Wie tief reichen Deine Kontakte in die polnische Szene hinein und worin siehst Du die größten Unterschiede zu den deutschen Gruppierungen?
Es gibt in Polen, wie auch bei uns, viele Leute, die die komplette Szene überblicken, fürs TMK schreiben oder Bilder machen. Die ticken ähnlich wie wir, da sie auch oft durch die Welt fahren, um andere Spiele zu sehen. Diesen Personenkreis trifft man regelmäßig, ob nun bei Spielen in Polen oder anderswo. Da sind quasi schon richtige Freundschaften entstanden. Kontakte zu den Szenen selber bestehen an sich fast überallhin. Natürlich nicht permanent, weil es gar nicht möglich ist, die alle zu pflegen, aber wenn man sucht, dann findet man auch immer einen Ansprechpartner oder wird zur Not vermittelt. Meinen Mitstreitern dürfte es ähnlich gehen. Durch die vielen Besuche bei diversen Spielen, hat man ja doch etwas Bekanntheit erlangt.
Unterschiede bestehen in fast allen Bereichen. In Polen regieren die Hooligangruppen und vereinfacht formuliert, ist alles was in den Stadien in Sachen Stimmung oder Optik passiert, nur schmückendes Beiwerk. Es ist von Interesse, es wird auch darüber berichtet, aber selbst in Gesprächen mit Fußballreisenden aus Polen redet man doch stets nur über die Aktivitäten, die heutzutage leider fast nur noch außerhalb der Stadien stattfinden. Für deutsche Besucher ist das glaube immer sehr schwer greifbar und oftmals verzettelt man sich in den Berichten dann etwas, wodurch beinahe eine Parallelwelt geschaffen wird. Denn während der deutscher Hopper traurig ist, weil nur einhundert stillschweigende Leute von GKS Tychy nach Zielona Gora gefahren sind, sieht der Pole das mit ganz anderen Augen, weil die unterwegs von Zaglebie Lubin überfallen wurden und es eine mehrminütige Schlacht gab. Und allein das zählt. Daran wird sich auch meiner Meinung nichts ändern. Das ist schlichtweg die Mentalität des polnischen Volkes und passt zum dortigen Leben. Völlig konträr zu Italien und auch nicht annähernd wie auf dem Gebiet von Ex-Jugoslawien, wo die Ultras-Mentalität stärker verinnerlicht wurde. Ist eben einfach so und ich finde das sogar gut, denn Änderungen wären künstlich und eine Einheitswelt braucht keiner.
Es bestehen noch viel mehr Unterschiede, aber die alle aufzuzählen würde den Rahmen des Interviews sprengen. Exemplarisch vielleicht einfach mal die Info, wie hierzulande im Vorfeld an ein Auswärtsspiel gegangen wird. Angenommen es spielt Slask Wroclaw in Kielce. Der Gästeblock fasst 777 Personen und wenn das Spiel an einem Montag stattfindet ist klar, da fahren kaum mehr als 200 aus Wroclaw hin. In Deutschland vergleichbar mit einem x-beliebigen Spiel in Liga 3, sprich man muss sich nicht um eine Karte kümmern, sondern einfach nur hinfahren. Gut, mal davon abgesehen, dass die Fanszene festlegt, wie gefahren wird und nur in Ausnahmefällen – durch andere Wohnorte etc. – eigens angereist werden kann, so muss der Gast bis spätestens ein bis zwei Tage vor dem Spiel eine Namensliste mit allen Auswärtsfahrern an den Gastgeber senden. Spontan mal mitfahren ist also problematisch. Die Namenslisten verwaltet die Fanszene. Will ich also nach Kielce mitfahren, so muss ich mich in der Woche vor dem Spiel an die entsprechenden Personen wenden, Passnummer und Name durchgeben und dann bekomm ich meine Karte. Mach ich das nicht, stehe ich in Kielce nicht auf der Liste und werde somit am Eingang nicht rein gelassen, denn dort wird die Liste abgeglichen. Bei vielen Vereinen kann man sich mittlerweile auch am Eingang noch eintragen, aber das ist vorher meist nie klar und klappt auch nicht immer. Bei Spielen, wo das Kartenkontingent nur gering ausfällt, entscheidet auch die Fanszene wer eine erhält, sprich ein Normalo, der nie auswärts fährt, hat da keine Chance.
Wie siehst Du die Veränderungen in der polnischen Fanszene im vergangenen Jahrzehnt und hat sich nach der Europameisterschaft 2012 wieder etwas gebessert?
Veränderungen gab es ja viele. Allein durch die stete Überwachung und die neuen Stadien. Die wilden Jahre sind lange vorbei. Die Zeit kurz vor und auch nach der EM war schrecklich. Erstaunlich ist die Tatsache, dass es Deutschland war, die hier der polnischen Szene ein Stückweit einen Ruck gegeben haben. Warum? Weil es genau der Zeitraum war, in dem in den deutschen Stadien der Gebrauch von Pyro zugenommen hat und alle gemerkt haben, wie ‚die da drüben‘ nach ihrem Großereignis die Repression überstanden haben. Das war wie eine Art Vorbild. Legia hat dann begonnen zu zünden, quasi als die ersten und einzigen und es dauerte nur wenige Monate und Schwupps zog der nächste nach und ab da an begann es wie eine Welle. Ansonsten hat sich allerdings wenig gebessert. Der neue Verbandspräsident Boniek hatte sich zwar viel vorgenommen und lautstark getönt, unter anderem Stehplätze nach deutschen Vorbild einzuführen, aber wirklich was geändert wurde, wie so häufig der Fall, nicht. Die Überwachung ist enorm und nicht vergleichbar mit der in Deutschland. Aufgelehnt wird sich aber dennoch kaum, weil das nicht der polnischen Mentalität entspricht. Werden in Deutschland neue Gesetze oder Verbote erlassen, formieren sich direkt Protestbewegungen oder es besteht generell eine Lobby, die dann dagegen aufbegehrt. Sowas existiert in der polnischen Gesellschaft nicht. Ein erlassenes Verbot hinterlässt maximal ein Schulterzocken samt der Ansicht „Mir doch egal, ich mach trotzdem mein Ding und umgehe das irgendwie, die da oben haben mir gar nichts zu sagen“.
Auch die neuen Stadien haben natürlich für viel Veränderung gesorgt. Allerdings gehe ich mit der Meinung vieler deutscher Fanzine-Autoren nicht konform. Klar, die neuen Stadien sind generell scheiße, egal ob in Polen oder anderswo in Europa. Aber oftmals hat man das Gefühl, als fährt der dekadente Deutsche kurz für zwei Tage rüber, um all das zu erleben, was er zu Hause nicht hat, aber auch nicht will. Denn wenn ich weiterhin die alten Stadien will, dann sprech ich einem Land auch die Weiterentwicklung auf anderen Ebenen ab. Und so hart das auch klingen mag, aber die Menschen dort wollen auch nicht im Dreck leben und Einkaufszentren, hübsch herausgeputzte Städte und leider auch neue Stadien gehören eben zu einer höheren Lebensqualität dazu. Außerdem legten Polen eben auf derartiges viel Wert. Geld und Wohlstand spielen eine wichtige Rolle, was auch erklärt, warum die Bilder um die Stadien nicht mit denen aus Deutschland vergleichbar sind. Während sich hierzulande der Großteil beim Fußball – und nicht nur dort – gern asozial gibt, ist sowas in Polen völlig verpönt. Man mag gern zeigen, was man hat und das man nicht zum vermeintlichen Abschaum der Gesellschaft gehört. Und so stimmt es in meinen Augen auch nicht, dass sich heute anderes Klientel bei den Spielen der obersten Liga einfindet. Nee, das sind die gleichen Menschen wie vor 15 Jahren, nur hat sich eben der persönliche Lebensumstand auch geändert und durch andere finanzielle Möglichkeiten wirkt das Publikum für Deutsche vielleicht neureich. Nur ist es eben der gleiche Mensch, der vor 15 Jahren eine Jacke für 15 Euro getragen hat, sich heute aber eine für siebzig Euro leisten kann. Sowas muss man eben einfach hinnehmen. Das soll natürlich nicht heißen, dass ich das super finde, mir haben auch die 90er Jahre besser gefallen, als ich im Zug mit sechzig verrückten Jugendlichen zum Auswärtsspiel durch ganz Polen gefahren bin und die meisten nur zwanzig Zloty einstecken hatten. Aber auch dieser Spirit ist heute noch teilweise zu spüren. Natürlich braucht man da etwas Hintergrundwissen, Sprachkenntnisse und muss sehr genau hinschauen.
Welche sind für Dich die beeindruckendsten Szenen in unserem östlichen Nachbarland und warum?
Es gibt für mich nicht DIE beeindruckende Szene. Klar, Legia finde ich geil, allein schon diesen direkten Weg den sie gehen, unbeirrbar und egal, welche Konsequenzen das Handeln haben könnte. Dazu finde ich auch Ruch immer wieder geil, oder Zawisza Bydgoszcz. Gibt eben einfach Szenen, die einem sympathisch sind, ob das LKS Lodz ist oder Zaglebie Sosnowiec. Meistens ist das nicht rational erklärbar. Persönlich schlägt mein Herz in Polen aber für WKS Slask!
Insgesamt ist einfach die Komplexität der polnischen Fanszene das, was es ausmacht. Die Anzahl der Szenen, die ständige Rotation und einfach das gesamte Land. Schwer zu beschreiben. Man muss es einfach mögen und ein Faible dafür haben.
Gleichzeitig hast Du noch die neue Beziehungskiste 15 dabei. Was sind für Dich die Highlights der aktuellen Ausgabe?
Das Highlight ist, dass überhaupt noch eine Ausgabe erschienen ist. Wir hängen arg hinterher, also besteht wenig Grund sich zu rühmen. Wenn ich schon etwas anführen müsste, dann einfach die Bandbreite an Spielen, wenngleich die leider nicht so hoch ist, wie noch in Heft 13 und 14. Exotisch sind diesmal Berichte aus Kirgistan sowie Japan und Südkorea, dazu ist wieder ein Besuch aus Weißrussland enthalten, der auch einige, wie ich finde interessante Informationen parat hat, die man sonst nicht so einfach bekommt. Das Land ist mir durch mittlerweile vier Besuche ziemlich ans Herz gewachsen und durch die Kontakte zu einigen Personen aus der dortigen Szene versuch ich, da auch jeweils einmal pro Jahr hinzufahren. Ist halt einfach was ganz anderes. Dazu gibt es diesmal über dreißig Spielberichte aus Polen. Viele Auswärtsfahrten mit Slask Wroclaw und ich hab da allgemein bei den Texten versucht etwas rauszuholen, was normale Groundhopper nicht wissen oder erfassen können. Ich denke, wer an Polen interessiert ist, wird her auf jeden Fall auf seine Kosten kommen und einen entsprechenden Mehrwert ziehen können. Und darauf kommt es ja in meinen Augen auch mit an. Wenn man in Sachen Schreiberei nicht mit sonderlich viel Begabung gesegnet ist und keine krassen Touren wie nach Somalia, Bhutan oder Turkmenistan bieten kann, muss man das eben durch hohen Infogehalt wettmachen.
Welche weiteren Projekte hast Du für dieses Jahr noch in Planung?
Aktuell ist noch rein gar nichts Spruchreifes geplant. Zwar existieren paar lose Vorstellungen, aber nach dem Mammutprojekt jetzt, bin ich einfach nur froh meine Ruhe haben zu können. Die englischen Wochen bzw. der Abstiegskampf mit dem FSV Zwickau sind schon stressig genug, somit liegt alle Konzentration auf meiner eigenen Szene.
Anschließend noch eine sportliche Frage. Die polnische Meisterschaft ist hart umkämpft und auch zwei Mannschaften sind mit dabei, die bisher noch kein Meister waren. Wer wird sich Deiner Meinung nach am Ende durchsetzen?
Ganz klar: Ich hoffe das Lechia Gdansk das Ding zieht. Ich hab selber relativ viele Spiele von Lechia gesehen, habe einige Bekannte dort, für die es mich einfach riesig freuen würde. Dazu sind Slask und Lechia seit Jahrzehnten freundschaftlich verbunden. Das I-Tüpfelchen, vor allem in den Zeiten des heutigen Fußballs wäre der Meistertitel durch die Tatsache, dass Lechia nach der Vereinspleite im Jahr 2000 von den Fans neugegründet wurde und in der A-Klasse (sprich damals sechste Liga) beginnen musste und somit der Titel die Krönung der jahrelangen Durststrecke wäre. Insgesamt freu ich mich, wenn gute Fanszenen den polnischen Fußball im internationalen Geschäft repräsentieren dürfen, auch wenn ja meist nach der ersten Runde schon Schluss ist, hehe.
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