‚Tifare Contro‘ ist eine Geschichte der italienischen Ultras, aber nicht DIE Geschichte. Das betont Autor Giovanni Francesio bereits in seinem Vorwort. Das Buch war bisher nur in Italienisch erhältlich und wurde nun vom dem BfU nahestehenden Burkhardt Verlag ins Deutsche übersetzt.
Eine Rezension von Ingo Braun
Giovanni Francesio ist weder Journalist noch Wissenschaftler. Er ist Jahrgang 1970 und hat selbst ein paar Jahrzehnte Stadionerfahrung auf dem Buckel. Nach der Tötung des Lazio-Anhängers Gabriele Sandri durch einen Carbineri war es ihm ein persönliches Bedürfnis, seine Sichtweise auf die italienische Ultrá-Bewegung wiederzugeben. Als einer der ihren. Für welchen Club sein Herz schlägt, lässt er offen, aber das tut auch nichts zur Sache.
Er beginnt mit seiner Geschichte bei den Ursprüngen der italienischen Ultrá-Bewegung in den 60er Jahren und wie diese sich rasend schnell auf das gesamte Land ausgebreitet hat. Der Autor beschreibt dabei auch schonungslos die rohe Gewalt, die für viele Ultragruppen recht schnell zum guten Ton gehörte. Dazu ein Auszug über den ersten Toten, der auf dieses Konto geht.
„Die dritte Rakete trifft nach ca. 200 Meter Flugbahn Vincenzo Paparelli, 33 Jahre alt, Fan von Lazio aus der Nordkurve, mitten ins Gesicht. Der Mechaniker aus dem Örtchen Mazzalupo sitzt gerade Brötchen essend neben seiner Frau Wanda. Seine Frau versucht noch erfolglos, ihm die Rakete aus dem linken Auge zu ziehen. Aber der Flugkörper brennt noch, und die Frau zieht sich nur Verbrennungen an der Hand zu. Als man es endlich schafft, die Rakete herauszuziehen, tritt aus Paparellis Schädel weiterhin Rauch aus. Paparelli stirbt einige Minuten später an Bord des Notarztwagens, der ihn ins Krankenhaus bringt.“
Und es folgen noch zahlreiche Geschichten über zu beklagende Todesopfer. Der Autor moniert dabei die Haltung der Öffentlichkeit und dass es selbstverständlich falsch ist, die gesamte Ultrà-Bewegung für diese Opfer zu verteufeln. Er weist aber auch an mehreren Stellen darauf hin, dass die Ultras selbst nun mal nicht ganz unschuldig daran sind.
„Und hier liegt – und es ist sehr wichtig, darauf noch einmal hinzuweisen – das schwarze Loch der Ultrà-Bewegung, das die vielen Gründe und Rechtfertigungen der Kurven aufsaugt: niemals der Mystik der Gewalt abgeschworen zu haben. Den rein Kriminellen, den Psychopathen, den Idioten nicht das Wasser abgegraben zu haben. Niemals innerhalb der eigenen Strukturen Antikörper gegen Gewalt entwickelt zu haben, niemals offen gesagt zu haben, dass der ehrliche Kampf schlichtweg eine undurchführbare Scheiße ist.“
Darüber dürfen zahlreiche Gruppen hierzulande ebenso nachdenken: „Gedankenlose 18-jährige, geil auf Selbstdarstellung, ausgehungert nach Emotion und Adrenalin. Bereit, in Unterzahl unter die Kurve der Gegner zu gehen. Vielleicht bewaffnet. Und dann zuschlagen. Ohne nachzudenken. Und töten.“ Na ja, soweit sind wir hierzulande dann noch nicht. Aber der Erklärung „offensichtlich muss jede Generation in den Kurven ihre eigene Scheiße bauen“ würde ich vorbehaltlos zustimmen.
Natürlich stellt sich der Autor auch gegen die Reaktionen des Staates auf die Gewalt. Das würde der geneigte Leser, von einem Kurvengänger wohl nicht anders erwarten. Gerade weil der Autor aber auch die eigenen Verhaltensmuster der Ultras kritisch beäugt, wird das Buch so interessant und vor allem glaubwürdig.
Eine echte Lösung hält der Staat natürlich ebenso wenig parat. Der kennt wie überall nur Repression; mehr Polizei, mehr Knüppel, mehr Tränengas, mehr Stadionverbote. Gerade die offensichtliche willkürliche Vergabe von Stadionverboten sorgt für großen Unmut bei Stadiongängern. Vor allem weil der Staat damit nicht nur die Gewalttäter bestraft, sondern hunderttausende Jugendliche kriminalisiert und extremen Strömungen innerhalb der Kurven Nährboden bietet. Wohin das geführt hat, sieht man in den Kapiteln über das Derby Catania – Palermo und den späteren Vorfall der zum Tod von Gabriele Sandri führt. Gewalt erzeugt Gegengewalt, in alle Richtungen.
Auch wenn sich Francesio in seinen Schilderungen immer auf die italienischen Verhältnisse bezieht, so prangert er damit doch auch immer wieder Zustände an, die wir in dieser Form auch aus unseren eigenen Kurven kennen. Interessant sind auch seine Betrachtungen, die zur Auflösung der bekanntesten Ultragruppen in Mailand (Fossa dei Leoni), Bergamo (Brigate Neroazzuro) oder der Brigate Gialloblu in Verona führten. Wer sich für die Entwicklung der italienischen Kurven interessiert und selbst nach Erklärungen für das Geschehene sucht, wird ‚Tifare Contro‘ in kürzester Zeit in sich aufsaugen. Ein Buch auf das wir schon lange gewartet haben.
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