Auf 279 Seiten in Hardcoverbindung für knapp 17 Euro ist Veit Pätzug eine geniale Geschichte der Geschichten und der Geschichte gelungen. In insgesamt vierzehn Kapiteln plus Prolog wird ein Teil in ‚Was wir niemals waren‘ der Lebensgeschichte des fiktiven Micha Peters aus Dresden-Stetzsch von den 70er Jahren beginnend bis zum Ende der Neunziger hin beschrieben.
Eine Rezension von Marko Thieme
Man lebt mit ihm mit (‚Das Leben ist ein Fluss‘) und erlebt den Alltag in der DDR hautnah. Es geht um Dresden und es geht um Dynamo. Es wird von Anfang an deutlich, wie sehr dieser Fußballverein das Leben von Micha beeinflusst. Unzählige Spiele, die Interaktion mit anderen Fans des eigenen und des gegnerischen Vereins, das Anstehen nach Karten, Europapokalabende und vieles mehr, aber eben auch das alltägliche Leben mit Schule, Freunden und Eltern. Und auch mit einem großen Schatten, welcher sich durch das ganze Buch zieht, dem Land in dem er lebt und die Auswirkungen auf das Leben durch den Staatsapparat und seine ausführenden Organe. Dies ist die besondere Stärke des Buches, das diese großen Komplexe nicht nur miteinander verknüpft, sondern teilweise auch auf unterhaltsame Weise beschrieben und dargestellt werden, ohne direkt anzuklagen. Es passiert einfach aus den Augen eines Jungen heraus und die Wandlung durch die verschiedensten einprasselnden Eindrücke werden sehr deutlich. Anzumerken ist, dass vor jedem Kapitel einige Seiten schreibmaschinengeschriebene Akten eingefügt sind. Berichte meist von Mitarbeitern der Staatssicherheit und von der Polizei. Einfach unglaublich, was da alles teilweise detailgetreu, aber auch aberwitzig notiert worden ist. Und es ist höchst interessant, wenn man erfährt, wie der Dynamo Fahnenblock von Mitarbeitern der Staatssicherheit durchsetzt ist und auf das korrekte staatstreue Verhalten der Fußballfans einzuwirken versucht.
Später kommt es durch Micha immer mehr zur Provokation von Eltern und Staat und er bringt die innerliche und auch äußerliche Zugehörigkeit zur Skinhead/Punker-Szene mit seinem ‚Mode-Skin-Outfit‘ zum Ausdruck. Auch in Dresden änderte sich auch bereits vor der Wende einiges und ‚Deutsche Veranstaltungen‘ traten im Umfeld von Micha in den Vordergrund. Die letzten Tage der DDR im heruntergekommenen Dresden werden schließlich beschrieben, „Alles außer Dynamo ist scheiße! Die einzige Wahrheit, die wir noch akzeptierten.“ und gipfeln in den bürgerkriegsähnlichen Zuständen Anfang Oktober 1989. Auch die Demos lange vor Leipzig und die Angst auf beiden Seiten werden beschrieben, da „trägt ein Licht vor sich her, der zottelige Zwei-Meter-Dynamo genauso wie die ergraute Frau im Rollstuhl“. Im Kapitel 10 ist ein sehr ausführliches im Juni 2009 geführtes Interview mit einem Hauptmann der Staatssicherheit abgedruckt, in dem man sehr viel über seine Sichtweise zu den verschiedenen Jugendsubkulturen („negativ-dekadente Jugendliche“) und Fußballfans sowie seine Tätigkeit erfährt.
Die übrig gebliebene Jugend des nicht mehr existierenden Landes, die Angst vor dem vorher nie bekannten Fremden und das um sich greifende Nazisein wird nun thematisiert, auch einige Quellen von Rechten und Linken wurden dazu eingefügt und Micha geht diesen Weg erst als Hausbesetzer, dann wieder nur noch als Fußballfan frei von Politik und schließlich mit Kontakten zur rechten Szene mit. Es wird erzählt, wie einige Jugendlichen aus dem Staat mit der angeblichen Friedensideologie mit den vielseitigen Wehrübungen für alle Altersgruppen, mit welcher auch Micha in seiner Jugendzeit immer konfrontiert worden ist, heraustreten und das Fremde bekämpfen. Nicht so bei Micha, der Fußball spielt in seinem Leben die Hauptrolle und lenkt seine Wege, „Die SG Dynamo war eine feste Burg. … Fußball blieb in Dresden heilig … Dynamo war unsere Heimat. Pure Identifikation.“. Die Anarchie tobt nun in Sachsens Fußballwelt. Freiheit! Micha erlebt die Ära Otto, freier Fall und die eigene Orientierungslosigkeit.
Man bekommt also durch die Kombination des Quellenmaterials mit der Geschichte von Micha einen sehr guten Eindruck des Lebens in DDR-Zeiten und nach der Wende in Dresden mit all seinen Wirren eines Jungen, eines Jugendlichen und eines Erwachsenen, wie Drogen, Mädchen, Linke und Rechte, aber auch der Blick zum fußballerischen Gegner im Stadion und auf der Straße kommt nie zu kurz, beispielsweise der politisch geförderte und sportlich scheinbar übermächtige Gegner aus Berlin und der Niedergang der SG Dynamo Dresden im Allgemeinen. „Die Zeitrechnung für Dresdner Fußballfans: Dynamo vor 1995 und Dynamo danach!“
Eine absolute Kaufempfehlung auszusprechen, sollte nicht leichtfertig geschehen, aber dieses Buch bekommt auf jeden Fall eine!
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