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Stadionrebellen Wohl kaum ein Fußballbuch hat den italienischen Fußball und die dazugehörigen Kurven bisher derart gut dargestellt, wie es Pierluigi Spagnolo in ‚I ribelli degli stadi‘ gelungen ist. Authentisch, ohne etwas zu beschönigen oder nur auf Krawall zu setzen. Vor wenigen Wochen kam dann endlich die deutsche Ausgabe mit dem Titel ‚Stadionrebellen – Eine Geschichte der italienischen Ultrabewegung‘ auf den Markt. Kai Tippmann, vielen als Kenner der italienischen Fankultur bekannt, zeichnet sich für die Übersetzung verantwortlich. In dieser Woche ergab sich dann die Gelegenheit, dem Autor ein paar Fragen zu stellen, was dann auch gleich genutzt wurde.

Hallo Kai, vor einigen Wochen ist Deine Übersetzung von ‚I ribelli degli stadi‘ mit dem Titel ‚Stadionrebellen‘ erschienen. Was erwartet die Leserschaft in Deinem Buch?

Die Stadionrebellen sind ein spannend geschriebener Abriss von mehr als 50 Jahren Geschichte der Ultras in Italien. Ultras gibt es ja mittlerweile auf der ganzen Welt, da könnte es für den einen oder anderen interessant sein zu lesen, woher das Phänomen stammt, das hunderttausende Menschen elektrisiert. Es ist ja nicht so, dass es sich tatsächlich um die ‚50 Gewalttäter, die sich nicht für den Sport interessieren‘ handelt, wie es die Medien so schön umschreiben, sondern um eine Subkultur, die sich aus allen gesellschaftlichen Schichten zusammensetzt und eine ganze Reihe äußerst positiver Aspekte mitbringt. Dabei ist der Autor nicht unkritisch, ordnet die Aspekte dieser Bewegung aber immer in den gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Kontext mit ein. Ich würde mir wünschen, dass ein 16-Jähriger, der sich für Ultras begeistert genauso viel aus dem Buch herausziehen kann wie ein 60-jähriger Ey-Schrankenwärter, der noch nie in einem Fußballstadion war.

Kai Tippmann (links) zu Gast im Fanprojekt Jena.

Welche Parallelen und Unterschiede gibt es in der italienischen und deutschen Fankultur?

Die Beantwortung dieser Frage würde vermutlich nochmal ein solches Buch erfordern. Ultras haben sich in Italien in den späten 60er Jahren erfunden und die politischen Auseinandersetzungen jener Jahre haben die Bewegung natürlich geprägt. Daraus ergibt sich einer der großen Unterschiede der beiden Fankulturen: In italienischen Kurven stehen auch 60-Jährige in aktiven und Führungspositionen, während deutsche Kurven natürlich im Schnitt viel jünger sind. So eine 50 Jahre organisch gewachsene Kurve mit mehreren Generationen auf den Rängen hat eine andere Anmutung als eine deutsche Kurve, wo man sich vielleicht schon mit 20 den Platz auf dem Zaun verdient hat. Ein anderer großer Unterschied ist Organisation und Vernetzung, man kann sich vorstellen, dass es in Italien meist weniger um ‚Regeln‘ und ‚Dresscodes‘ ging als in den oft anarchischeren italienischen Kurven. Aber in der Draufsicht muss sich das gar nicht so großartig unterscheiden, Ultras beobachten andere Szenen und Länder, lassen sich inspirieren und es gab und gibt ja durchaus auch ‚Moden‘, was den Support angeht. Beim Sicht- und Hörbaren sind die Unterschiede zwischen den beiden Ländern vielleicht gar nicht so groß und voller sind die Bundesligastadien ja sowieso.

Die italienischen Fankurven werden oft als sehr nationalistisch und teilweise rassistisch wahrgenommen. Wie empfindest Du das und könntest Du eventuell kurz die Sanktionen zur ‚territoriale Diskriminierung‘ erklären?

Die ‚territoriale Diskriminierung‘ war vor ein paar Jahren einmal die bauernschlaue Umsetzung der UEFA-Antidiskriminierungsregeln durch den italienischen Fußballverband. Für ca. zwei Spielzeiten wurden Fangesänge gegen den Gegner als ‚diskriminierend‘ eingestuft, was der Idee des italienischen Supports natürlich völlig entgegen steht. In der Praxis wurden aber auch nur Gesänge gegen Napoli mit Kurven- und Stadienschließungen bestraft und nachdem es einige Kurven darauf anlegten, wurde die Repressionspraxis auch wieder eingestellt. Ich finde natürlich nicht, dass ein Sprechchor der Curva Sud von Milan gegen Napoli etwas mit Rassismus zu tun hat, wie ich ihn verstehe. Ansonsten gibt es selbstverständlich Rassismus und Nationalismus in italienischen Stadien, den gibt es auch im Parlament, in Bars, Theatern und Ausflugsdampfern. Italien hat über die Jahre einen massiven Rechtsruck durchgemacht, der sich in den Kurven auch abgebildet hat. Obwohl die allermeisten Kurven die Verwendung politischer Symbolik verbieten, gibt es auch sichtbar rechte Kurven wie Hellas und Lazio wie auch rassistisches Gepöbel von den Tribünen. Was italienische Rechtsextremisten aber nicht nötig haben, ist sich in Stadien zu ‚zeigen‘ und zu agitieren, dafür haben sie überall sonst im Land weitgehende Freiheiten.

Welche Auswirkungen haben Deiner Meinung nach die Repressalien der vergangenen zwanzig Jahre auf den italienischen Fußball und die Fankurven gehabt?

Dafür braucht man sich nur ein paar Fotos und Videos von heute und von vor zwanzig Jahren anschauen: die Kurven sind leerer, grauer und stiller geworden, eine ganze Reihe von seit Jahrzehnten bekannten Zaunfahnen ist verschwunden. Ein paar Repressionsmaßnahmen wurden mittlerweile zwar aufgehoben oder abgemildert, dafür leiden natürlich auch italienische Kurven unter den ganz üblichen Unannehmlichkeiten des modernen Fußballs, hohe Ticketpreise, unmögliche Anstoßzeiten und billige TV-Übertragungen. Es sind also nicht nur die Kurven leerer geworden, mittlerweile sind selbst Derbys nicht mehr ausverkauft, für die man vor 15 Jahren noch eine Karte erben musste.

Kai Tippmann eingerahmt von den Ex-Nationalspielern Lothar Matthäus und Arne Friedrich.

Welche Kurve hat Dich bisher eigentlich am meisten beeindruckt und warum?

Selbstverständlich die Curva Sud von Milan, in der ich viele Jahre stand. Was Fossa dei Leoni und Brigate Rossonere damals ins Leben gerufen hatten, hat mich sicherlich am meisten geprägt. Aber in den Jahrzehnten, die ich mir italienische Fußballspiele anschaue, haben mich sicherlich auch dutzende andere Kurven beeindruckt. Torino hat uns im San Siro mal vom Auswärtsblock im dritten Oberrang aus an die Wand gesungen, das fand ich extrem beeindruckend. Oder Hellas, die an einem Mittwochnachmittag mit vielleicht 2.000 Leuten das Römer Olympiastadion bespielten, dass man von der Heimkurve neunzig Minuten lang praktisch überhaupt nichts hörte. Oder die Choreos von Sampdoria und Genoa in einem der schönsten Stadien Italiens. Oder die ‚Curva Moana Pozzi‘, die sich einstmals zusammenfand, um dem schlechtesten Verein Italiens die Daumen zu drücken und mittlerweile einen eigenen, extrem erfolgreichen Fußballverein betreibt. Ich will das mit dieser Frage hier aber auch gar nicht ausufern lassen, da ist ja niemand objektiv. Sagen wir es so: Wenn man mittendrin steht, sind eigentlich alle Kurven beeindruckend und darum sollte es ja auch gehen.

Den Zustand vieler Stadien in Italien kann man wahrscheinlich bedenkenlos als baufällig bezeichnen. Gibt es mittlerweile eine Entwicklung, Sanierungen und Neubauten anzugehen?

Ja durchaus, Juve und Sassuolo haben sowieso moderne Stadien, Udine hat sich eines gebaut, Atalanta ist gerade dabei. Bei Roma und Fiorentina wird seit vielen Jahren geplant, bei Milan und Inter ja auch. Es gibt also mehr oder weniger fortgeschrittene Gedankenspiele bei den meisten Vereinen der Serie A, die Stadien zu sanieren oder neue zu errichten. Finanzsorgen, Bürokratie, Korruptionsvorwürfe oder das Denkmalamt sorgen aber in Italien dafür, dass das alles nicht so schnell vorangeht, wie man sich das vielleicht wünscht. Liebhaber der aus der Zeit gefallenen Betonschüsseln mit Laufbahn haben also noch ein paar Jahre, ihr Hobby in Italien auszuleben.

Im Gegensatz zu Deutschland sind in Italien viele Fußballklubs in Privatbesitz. Pleiten und auch Namensänderung gehören da schon fast zum Alltag. Wie wird diese Situation von den Tifosi wahrgenommen?

Das wird als normal wahrgenommen, weil man es ja nicht anders kennt. Fußballklubs gehören in Italien irgendjemandem, historisch waren das meist typische Mäzene, meist Mittelständler, die sich mit einem Fußballverein beglückten, heute sind das häufiger auch mal Investmentfonds – wie Elliot bei Milan – oder internationale Großkonzerne – wie zum Beispiel Suning bei Inter. Fans können also – mit Ausnahme der börsennotierten Clubs wie Juve und Roma – nicht Mitglied werden oder anders Einfluss auf die Geschicke des Vereins nehmen. Aber wie gesagt, das ist in Italien seit mehr als hundert Jahren so und die meisten Vereine wurden in der Zeit auch schon mehrfach neu gegründet. Das ist sicher keine schöne Sache, wenn man betroffen ist, deswegen gibt es aber keine Revolten gegen das ‚System‘.

Und abschließen die Frage, in welche Richtung sich der Fußball in Italien Deiner Meinung nach entwickeln wird?

Ich denke, der Fußball wird sich global überall gleich entwickeln, wenn sein Erfolg anhält. Unternehmen mit Milliardenumsätzen werden wie Unternehmen mit Milliardenumsätzen geführt und wenn irgendwann 63 Prozent der Einnahmen aus den Fernsehrechten ‚für den asiatischen Markt‘ stammen und die Stadionerlöse nur noch drei Prozent, dann werden Stadionbesucher noch weniger wichtig sein, als sie es jetzt schon sind. Fußball wird zur gut geölten, milliardenschweren und weltweit vermarkteten Unterhaltungsindustrie und das ‚Stadionerlebnis‘ gibt es dann ein paar Klassen drunter. Ich würde mir natürlich wünschen, dass sich die ganze Welt auf die Playstation 5 stürzt und der Fußball so bleibt, wie er ist. Ich glaube nur nicht daran.

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2 Kommentare zu “„Wenn man mittendrin steht, sind eigentlich alle Kurven beeindruckend“ – Interview mit Kai Tippmann von Stadionrebellen”

  1. Sassuolo spielt im Mapei in Reggio nell Emilia, der Heimstätte von Reggiana.
    Ich finde die Formulierung „Stadion haben“ in diesem Zusammenhang falsch, da es eher einem Zu-Gast-sein ähnelt. Ferner ist das Stadion bereits Mitte der 90er errichtet worden und durch einige Renovierungen zwar gut in Schuss, jedoch kann man hier kaum von einem modernen Stadion sprechen…
    Frosinone hätte hingegen bestens in diese Reihe gepasst.

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